Sonntag, 21. Februar 2010

La vida cotidiana. Parte Dos

Das alltägliche Leben. Teil Zwei


Irgendeine Ecke in Cali.

Donnerstag, 11. Februar 2010

Ich quäle mich um 8 Uhr morgens aus dem Bett. Eine Stunde Unterricht muss ich heute geben, und ich kämpfe mit mir. Soll ich hingehen? Mein Bauch sagt nein, du kennst doch diese Schule, das wird eh nichts - mein Kopf sagt ja, du bist hier schließlich zum Arbeiten. Am Ende setzt sich mein Kopf durch und ich entschließe mich, hin und zurück 90 Minuten mit dem Bus zu fahren, um 60 Minuten zu unterrichten.
Ich warte auf den MIO und freue mich, dass der Bus ist so gut wie leer ist, es stehen nur zehn Leute. Ich sollte öfter erst um neun Uhr zur Schule fahren. Spätestens jetzt solltet ihr verstanden haben, dass "leer" und "voll" bezüglich des ÖPNV hier doch ganz andere Bedeutungen haben. Eigentlich gibt es nur "voll" und "sehr voll". Ich steige also ein, und irgendwer scheint es gut mit mir zu meinen, denn eine halbe Minute später steht jemand auf und ich kann mich hinsetzen. Das ist etwas, das ich in Deutschland noch nie so realisiert habe - das Glück, einen Sitzplatz im Bus und in der Bahn zu haben. Übrigens habe ich gerade in der Zeitung gelesen, dass die Betreiber des MIO - privatwirtschaftlich, wohlgemerkt - unzufrieden über die Auslastung des MIO sind, denn es sind etwa 30% weniger Fahrgäste als prognostiziert. Wenn ich morgens zwei Minuten brauche, um an den Menschenmengen in der Station vorbeizukommen, die auf einen Bus warten, und das schon 30% weniger als erwartet ist, klingt das für mich wie blanker Hohn. Wieso wurden denn dann überhaupt Sitzplätze in die Busse eingebaut? Ich kann in dem Falle nur den Einsatz von Viehtransportern empfehlen.
Ich komme also in der Schule an und will noch schnell ein paar Kopien machen. Eine andere Frau steht an und sagt mir, der Kopiermann käme "ahorita" (gleich, wörtlich genommen lustigerweise die Verkleinerungsform von jetzt). Da Verkleinerungsformen immer eine Möglichkeit sind, sich um genaue Angaben zu drücken, gehe ich lieber zum zweiten Kopierer, denn "ahorita" kann alles zwischen 10 Sekunden und 2 Stunden bedeuten.
An meiner Schule ist so gut wie alles privatisiert - so neben den Kopien unter anderem die Toiletten und das Toilettenpapier. Wir Lehrer haben zwar eine eigene Toilette, aber kein Papier - das muss man sich selber mitbringen oder kann es von den Klofrauen kaufen. Die Toilette hat keine Brille, genau wie 99% aller öffentlichen Toiletten in Kolumbien - ich war drauf und dran, "natürlich" zu schreiben. Die fehlenden Klobrillen und das dauernde Stehen im Bus sind einfach Sachen, an die man sich gewöhnt und wo sich die Erwartungshaltung herunterschraubt. Der Vorteil dabei ist, dass man anfängt, sich auch über die kleinen Dinge im Leben zu freuen.
Ich hole also 10 Kopien für 50 Pesos, etwa 2 Cent, das Stück. Schließlich gibt es keine Schulbücher in meiner Schule. Zum Glück bezahlt AFS die Kopien, sonst wüsste ich nicht, wie ich Unterricht machen sollte. Als ich meine Schüler abholen will, sind sie noch nicht da und ich warte mit dem Lehrer auf sie. Der Lehrer spricht zwar ganz gut Englisch, ist aber mehr auf seine sozialen Beziehungen zu den Schülern fixiert - ergo, sich bei niemandem unbeliebt zu machen - als darauf, ihnen etwas beizubringen. Seine 11. Klasse spricht komplett kein Wort Englisch. Ihr denkt, das ist übertrieben? In seiner Klasse kann kein Schüler auf Englisch sagen, wie er heißt. Aber dafür bin ich ja da. Genau dieser Lehrer hat sich dann gedacht, er könnte mir seine ganze Klasse geben und eine ruhige Kugel schieben. Aber da mache ich nicht mit und habe ihm klar und deutlich gesagt, ich arbeite mit maximal 12 Schülern und das sei mit dem Rektor abgesprochen. Schließlich kann man hier einfach mit 35 Schülern keinen vernünftigen Unterricht machen - und ich ohne pädagogische Ausbildung sowieso nicht.
Als meine Schüler dann kommen, sind schon 15 Minuten vergangen. Wir gehen in einen anderen Raum und die Schüler sollen sich vorstellen - das haben wir letzte Woche geübt. Aber wie das nun einmal so ist, keiner hat was gelernt, keiner kann was, keiner weiß was. Noch vor sechs Monaten wäre ich explodiert, doch nach einem halben Jahr Kolumbien bringt mich nichts mehr so schnell aus der Ruhe. Mit 16 Jahren sind die Schüler schließlich für sich selbst verantwortlich und ich biete ihnen an, ihr Englisch zu verbessern. Für die meisten ist es neu, dass jemand sie einmal direkt anspricht, da sie in einer Klasse mit nur 12 Schüler viel mehr in meinem Augenmerk sind. Doch wenn sie nicht wollen, dann denke ich mir meinen Teil und biete ihnen trotzdem weiter meine Hilfe an. Meine Hoffnung ist, dass sie irgendwann wollen.
Wir machen also alles aus der letzten Stunde noch einmal mit Lautschrift und ich habe gerade eine halbe Stunde mit ihnen gearbeitet, da müssen sie auch schon zu einer "reunión" (Treffen) mit einem Lehrer. Wie jetzt, wir haben doch noch eine Viertelstunde Unterricht? Ja, aber es sei wichtig und so weiter bla bla. Na gut, alle die dahin gehen müssen, sollen gehen, die anderen bleiben hier. Ich bleibe allein zurück. Hatte ich mich eigentlich einmal gewundert, dass das Englischniveau der Schüler so schlecht ist? Jetzt weiß ich es jedenfalls.
Ich gehe frustriert zum Supermarkt und kaufe mir ein Achterpack Snickers zum Preis von 6. Irgendeine Sonderaktion gibt es immer für irgendwas. Leider bin ich jetzt an der zweiten Busstation, wo unter Garantie kein Sitzplatz mehr frei ist. Ich könnte auch eine Station zurückfahren, aber ich will nach Hause. Als den Bus kommt, ist er noch recht leer - ich kann gut stehen. Doch nach zwei Stationen steigt der Mann, neben dem ich stehe, aus, und ich kann mich hinsetzen. Die Frustration geht langsam zurück durch die Zufuhr von Schokolade in Form von Snickers. Als ich aussteige, scheint die Sonne. Ich bin glücklich.


Dieses Taxi stand einmal bei uns mitten auf der Kreuzung, mutterseelenallein ohne Fahrer. Gekidnappt? Benzin alle? Fahrer einen Kaffee trinken gegangen?

Freitag, 12. Februar 2010

Auf meinem Stundenplan stehen vier 10. Klassen für heute. Nachdem ich ein paar Kopien gemacht habe, fängt auch schon die erste Stunde an. Wir lesen wieder Lektion 2B - insgesamt werde ich das 22 Mal machen, mit jeder Klasse einmal. Das macht die Arbeit natürlich etwas langweilig, aber auf der anderen Seite freue ich mich, endlich richtig etwas zu tun.
Diese Freude geht eine Stunde später wieder verloren, da meine Klasse nicht kommt. Ich finde die Lehrerin, die mir erzählt, die Klasse hätte gerade "aula hogar" (Klassenrat). Na toll, wieso muss das jetzt in meiner Stunde sein? Und wieso erfahre ich so etwas eigentlich immer erst zu spät? Nach 5 Wochen Unterricht nach den Ferien habe ich diese Klasse kein einziges Mal gesehen. Es ist typisch für diese Schule, dass immer irgendwas ist, sodass kein Unterricht stattfinden kann, sei es eine Versammlung, eine Demonstration (so wie die Woche zuvor) - oder die Schule fällt aus "wegen is' nich" (z.B. am Tag nach der Demo), wo keiner weiß, warum eigentlich frei ist. Hauptsache, keine Schule. Aber wie bei der Klassenratsstunde erfahre ich meistens zu spät von allem und stehe dann dumm in der Schule rum, wie bestellt und nicht abgeholt.
Die dritte Stunde verläuft dann nach Plan, bis fünf Minuten vor Ende eine Lehrerin reinkommt und meint, es sei Pause. Wie fast immer hat sie ihre Schüler zu früh in die Pause geschickt, doch ich weise sie darauf hin, dass ich das Lehrerzimmer, wo ich unterrichte, noch fünf Minuten benötige. Lehrerzimmer klingt natürlich heftig, aber im Endeffekt ist das so groß wie ein Klassenraum, hat 15 Stühle, eine Tafel und eine Kaffeemaschine für den obligatorischen "cafesito" (Käffchen). Die Lehrerin wandert jedoch weiter durchs Lehrerzimmer und verkündet lauthals, jetzt sei Pause. Gut, wenn sie's drauf anlegt, bitteschön. Ich weise meine Schüler darauf hin, dass wir noch fünf Minuten Unterricht haben. Keiner packt seine Sachen, sondern alle hören mir zu. Die Lehrerin verlässt vernichtend geschlagen das Schlachtf... - äh, das Lehrerzimmer.
Das klingt vielleicht gerade so, als ob ich alle Lehrer gegen mich aufhetzte, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich verstehe mich mit fast allen super und werde ab und zu von ihnen nach Hause eingeladen, zu Feiern oder einfach mal so. Ich arbeite aber gründlich und gewissenhaft und wenn Lehrer mir ihre Arbeit aufbürden wollen oder mir meine Unterrichtszeit klauen wollen, dann muss man auch mal "Nein" sagen. Ich persönlich habe das Gefühl, ich arbeite kaum - die Lehrer und der Rektor hingegen sagen mir dauernd, wie arbeitsam ich sei. Wie unterschiedlich die Einschätzungen doch sind.
Die vierte Klasse hingegen kommt wieder nicht, da die betreffende Lehrerin zum Arzt gegangen ist und die Schüler dann frei haben. Meine 12 Schüler hätten zwar eigentlich kommen sollen, aber hatten anscheinend keine Lust. Ich denke dann immer wieder an das Sprichwort "Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps". Ich will nicht behaupten, dass meine Lehrer in Deutschland nie während ihrer Arbeitszeit zum Arzt gegangen sind, doch es ist ja nicht nur das - es existiert einfach keine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit, wenn ein Lehrer während der Schulstunde mit irgendwem über sein Handy telefoniert. Als Lehrer sollte man schließlich auch Vorbild für die Schüler sein bezüglich Anwesenheit, Pünktlichkeit und Arbeitsverhalten.
Auf dem Rückweg fahre ich an mehreren Straßen vorbei, die gerade komplett gesperrt worden sind. Endlich werden die Buckelpisten mal erneuert. Es tut sich was in Cali! Straßen sind hier zwar breit, aber meistens ist irgendeine Spur wegen irre tiefer Schlaglöcher nicht nutzbar und Slalom fahren ist angesagt. Ich komme zu Hause an und wundere mich nicht mehr, dass ich an einer vierspurigen Einbahnstraße wohne, die einen Mittelstreifen hat, was man in Cali recht häufig sieht. Wozu? Das Ganze ist historisch bedingt und liegt daran, dass alle paar Jahre Einbahnstraßen umgedreht oder zu normalen Straßen umgewandelt werden - und andersherum. Mein Gastvater Javier meinte dazu, dass die Verkehrsminister halt immer irgendwas ändern müssten, sonst brauchte man sie ja nicht. Wohl wahr. Ich stelle mir vor, wie der Garstedter Weg bei mir zu Hause nur in Richtung Flughafen oder dann plötzlich wieder nur in Richtung Innenstadt befahrbar wäre, und bewundere daraufhin meine Gasteltern für ihre innere Ruhe.

Sonnabend, 13. Februar 2010

Morgens gehe ich einen anderen Weg zur Avenida Roosevelt, um den Bus zu nehmen. Sowohl die Linie 2 von "Amarillo y Crema" (Gelb und Beige) als auch die 6 von "Verde San Fernando" (Grüner "San Fernando" - das Viertel, in dem ich wohne) würden mich zu Diana bringen., um Deutsch zu unterrichten. Die Busse haben vorne im Fenster immer Tafeln, auf denen steht, wo sie hinfahren. "Ciudad 2000" (Stadt 2000) soll's sein. Heute kommt der "Amarillo y Crema" zuerst und für 1500 Pesos, 50 Cent, quetsche ich mich in eine Sitzreihe, bei der im Vergleich ein Ryanair-Sitzplatz erste Klasse erscheint.


Nach drei Stunden Deutschunterricht will ich zum Einkaufszentrum Palmetto und suche ich die Linie 2 von "La Ermita" (Name der gezeigten Kirche in Cali). Ich laufe aber an einer Abzweigung vorbei und stehe 20 Minuten doof an einer Kreuzung herum, bis ich merke, dass der Bus hier wohl nicht vorbeifährt. Also laufe ich wieder zurück und probier's nochmal. Ich höre einen lauten Knall. Ein Schuss? Wie hört sich sowas wohl an? Sehen tu ich aber nichts, also laufe ich weiter und finde meinen Bus. Der biegt dann auch 10 Meter später ab - kein Wunder, dass ich ihn an der Kreuzung nicht gefunden habe. Dafür sehe ich nun, was so laut geknallt hat: Ein Bus hat ein Motorrad volle Kanne erwischt.
Schutzkleidung? Bei 30°C in Cali? Wohl kaum. Dafür die obligatorische Weste, die das Kennzeichen noch einmal zeigt, und hoffentlich einen Helm. Es gibt in Cali etwa 250.000 Motorräder - jeder zehnte Einwohner besitzt also eins - und 10.000 Unfälle mit Motorrädern jährlich. 4% - das ist verdammt viel. Aber so wie die Leute hier fahren, kann man beim besten Willen nichts anderes erwarten. Besonders im MIO sieht man immer wieder, wie die Leute den Bus einfach übersehen. So ein 18 Meter langer blauer Bus auf einer extra Busspur ist ja auch recht unauffällig. Fahrräder, Spaziergänger, Motorräder, Autos, alle laufen und fahren über die Busspur, ohne sich einmal umzusehen. Man denkt wirklich, sie haben keine Augen im Kopf. Ich glaube, ich wäre kein guter Busfahrer hier. Mich regt das ja schon als Fahrgast auf.
Ich komme also im Palmetto an, um ein Hemd zu tauschen. Ich hatte es zu Weihnachten bekommen, aber weder Farbe noch Größe passten zu mir. Anderthalb Monate später umtauschen? Kein Problem, sofern man die Nummer seiner "cedula" (wie ein Personalausweis, auch für Ausländer verpflichtend), seine Telefonnummer und sein Geburtsdatum preisgibt. Sonst noch was? Wie Eric aus Bogotá so schön sagte: "Ich bin der Eric, meine Lieblingsfarbe ist blau und ich ess' gern Kaiserschmarrn." Wär doch mal was.
Ich werde also von zwei Angestellten betreut und mit Komplimenten bedacht. Ach, wie schön mir doch dieses oder jenes Hemd stünde und sowieso alles. Ich fand mich an diesem Tag nicht besonders attraktiv, da mein Gesicht allergisch auf die 40°C in dieser Woche reagiert hatte, aber was soll's. Ich bedanke mich also freundlich, aber lehne die Bekanntgabe meiner Handynummer mit den Worten "Ich habe schon eine Freundin, tut mir Leid" ab - habe die Lacher der fragenden jungen Dame und ihrer Kolleginnen dabei auf meiner Seite - und will nach Hause. Das Palmetto liegt nur leider etwas unglücklich an einer Straße, wo der MIO nicht fährt. Die normalen Busse würden mich nicht nach Hause bringen, sondern vier Blocks weit weg. Da das Palmetto nur ungefähr 10 Blocks von zu Hause weg ist, spare ich mir den Bus und laufe lieber.
Mittlerweile bin ich recht paranoid geworden und wäre, so glaube ich, ein guter Geheimagent - nicht in Kolumbien natürlich, dafür falle ich viel zu sehr auf. Das wird sich sicherlich auch wieder geben, aber nach letztem Sonntag habe ich nur noch Augen für die Hände der Leute. Haben sie ein Messer? Wenn ich die Hände nicht sehen kann, ist mir jemand sofort verdächtig. Neulich war ich im Fitnessstudio auf dem Laufband im Erdgeschoss und sah vor dem Fenster einen ungepflegt aussehenden Mann sitzen. Mein Handy lag auf der Konsole vom Laufband und mir fiel sofort auf, dass der Mann eine Hand hinter dem Rücken hatte. Ich konnte nicht aufhören, ihn zu beobachten, und war jeden Moment dazu bereit, hinter der nächsten Wand Deckung zu suchen. Ihr lacht jetzt wahrscheinlich, aber ich meine das todernst.
Wie gesagt, diese Paranoidität wird sicherlich wieder abnehmen, aber drei Raubversuche in sechs Monaten wirken sich schon irgendwie auf die Psyche aus. Man lernt, Leute zu beurteilen. Der sieht gefährlich, der eher ungefährlich aus. Man lernt, von manchen Leuten fernzubleiben, sich auf der Straße nicht ansprechen zu lassen. Ist das nicht genau das Gegenteil, was mir 13 Jahre lang in der Schule beigebracht wurde, "alle Menschen sind gleich"? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich fünf Mal auf der Straße angesprochen wurde. Drei Mal davon wurde ich fast ausgeraubt. Das macht eine 60% Quote, dass jemand mir etwas Böses will. Auch an diesem Tag wurde ich von einem Mann angesprochen. Screening-Raster: potentiell gefährlich. Ich war sofort hellwach, machte einen Ausfallschritt und sprintete los. Schon im Oktober sagte Julian: "Kolumbien hat mich Misstrauen gelehrt." Ich stimme zu.
Abends treffe ich mich mit Johannes, der auch mit AFS hier ist und im Zoo arbeitet, im nahe gelegenen "Parque del Perro" (Hundepark). Der Name kommt übrigens nicht von einer Hundefreilaufzone - das interessiert hier eh keinen - sondern von einer Hundestatue. Ein Junge, vielleicht 14, 15 Jahre alt, kommt auf mich zu. Einschätzung: potentiell gefährlich. Ich riskier's und bleibe sitzen.
"He, Gringo, willst du Drogen?" - "Nein danke, ich kiffe nicht." Marihuana sieht - und riecht - man hier abends an jeder Ecke. "Koka, Gringo?" Und der Junge packt fein säuberlich verpackte Beutelchen mit weißem Pulver aus. "Nein danke, auch kein Kokain. Außerdem bin ich kein Gringo." Gringo bedeutet schließlich US-Amerikaner. "Wieso redest du dann so komisch?" - "Ich komme aus Deutschland." - "Aha. Und du willst wirklich nichts?" Ich denke: Solltest du nicht lieber schlafen gehen? Übermorgen hast du Schule, mien Jung'.
In Anbetracht der Programmrichtlinien, meiner Gesundheit, und eines möglichen medizinischen Tests der Lufthansa verzichte ich auf's Kokain. Man denkt ja, es gibt in Kolumbien an jeder Ecke Drogen. Das ist übertrieben - sagen wir besser, jede zweite. Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft mir Drogen angeboten wurden oder ich sie gesehen oder gerochen habe. Man gewöhnt sich dran und stumpft  irgendwie ab.


Die Kirche "San Bosco". Rechts sichtbar ein Bus von "Gris San Fernando" (Grauer San Fernando).

So, genug geschrieben. Ich hoffe, euch einen kleinen Einblick in meine Welt gegeben zu haben - und besonders in mein Gefühlsleben. Es ist eine komplett andere Welt hier für mich und oft werdet ihr festgestellt haben, wie neu jeder Tag für mich ist. Ich verstehe, rege mich auf, lerne, staune und freue mich - jeden Tag aufs Neue.

Sonntag, 14. Februar 2010

La vida cotidiana. Parte Uno

Das alltägliche Leben. Teil Eins

Da hier verständlicherweise immer mal wieder der Wunsch geäußert wurde, zu erfahren, was ich denn eigentlich den lieben langen Tag so mache, wenn ich nicht gerade verreise, kommt hier ein Überblick über die letzte Woche. Nicht repräsentativ, nicht wertend, nicht objektiv, einfach nur meine Handlungen und Gedanken. Das Ganze wird begleitet von Fotos aus Cali, die bisher noch nicht den Weg in den Blog gefunden haben, wie zum Beispiel das Folgende.


Eine typische Straße in Cali.

Sonntag, 7. Februar 2010

Ich stehe um 9 Uhr auf, denn zwei Stunden später muss ich Diana Deutschunterricht geben. Diana geht in ein paar Monaten als Austauschschülerin nach Deutschland und kann noch kein Deutsch. Für drei Stunden bekomme ich 50.000 Pesos, knapp 20 Euro, und ein Mittagessen. Aber so richtig kann ich mich nicht dazu überwinden, aufzustehen, und so bin ich mal wieder spät dran. Um 10.30 Uhr komme ich endlich los, zehn Minuten zu spät. Die Busfahrt dauert eine knappe halbe Stunde und ich muss auch noch 10 Minuten laufen, da bei uns in der Straße keine Busse mehr fahren außer dem MIO, dem modernen Bussystem. Der würde mich aber nicht zu Diana bringen. Ich laufe also die Carrera 34 runter zur Avenida Roosevelt und warte dort auf den Bus.
Ein Mann kommt auf mich zu. Er kommt mir schon irgendwie seltsam vor und ich gehe ein paar Schritte zur Seite. Leider nicht genug, denn er packt mich am Arm und erzählt mir, er wolle mich ausrauben. Falls ich wegliefe, stünden Leute in der Gegend rum, um mich zu erschießen. Morgens halb elf in Kolumbien: durchaus eine ganz andere Welt als die Knoppers-Werbung. Ich verstehe jedenfalls nicht ganz genau, was er will, ich glaube Geld. Trotzdem habe ich keine Lust nachzufragen, sage "tranquilo" (ruhig) und er lässt mich los. Dann schmeiße ich noch ein "No entiendo" (Ich versteh dich nicht) hinterher und gehe ruhig weg. Er folgt mir mit etwa 10 Metern Abstand und versucht, mit seinen Füßen Geräusche zu machen, damit ich Angst bekomme. Habe ich auch, aber ich bleibe ruhig. Ist ja nicht das erste Mal. Ein Taxi fährt vorbei, ich steige ein und los geht's. Zum Glück gibt es mehr als genug Taxis in Cali und man muss selten mehr als eine Minute warten. Erst mal durchatmen, die Angst kommt hoch. Doch von Entspannung keine Spur, das Taxi ist nämlich nicht registriert. Vom Regen in die Traufe? Ich zwinge mich, höchst aufmerksam zu sein und plane in Gedanken, wie ich dem Taxifahrer den Hals umdrehen könnte. Doch ich komme pünktlich und sicher bei Diana an.


Taxis überall: Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist gelb.

Wie, "nicht das erste Mal"? Ganz genau, man hat nun schon drei Mal versucht, mich auszurauben. Einmal am Fluss, vor drei Monaten abends um sechs Uhr mit meiner Freundin. Gut, da gebe ich mir die Schuld: Da fährt nämlich nur der MIO. Wo nur der MIO fährt, fahren keine Autos, es gibt also keine Läden, das heißt keine Leute, das heißt erhöhte Überfallgefahr. Zwei Männer kommen an, packen uns an den Armen, erzählen uns das Gleiche wie mir am Sonntag. Ich verstehe gar nichts und sehe meine Freundin weglaufen. Gut, lauf ich auch mal mit. Wir sehen die beiden später noch an der nächsten Ecke Eis essen. Leider ist keine Polizei in der Nähe.
Das zweite Mal nur zwei Tage später, zwölf Uhr mittags auf dem Weg zu meiner Freundin. Ihr Viertel ist von der Hauptstraße durch eine große Fabrik getrennt, an der man entlanglaufen muss. Da sind also keine Häuser, Läden oder Leute. Ein Mann kommt an, fängt an mit mir zu reden, kommt mir gefühlt sehr nahe. Dann will er "die Uhrzeit von meinem Handy" wissen, obwohl er eine Uhr umhat. Bei mir klingeln alle Alarmglocken. Regel eins: "No da papaya." ("Gib keine Papaya" - zeig deinen Reichtum nicht.) Regel zwei: Seit wann fragen Kolumbianer nach der Uhrzeit? Ich drehe mich um und sehe ein Taxi. In dem Moment redet der Mann plötzlich schnell und unfreundlich. Er fragt mich, ob ich ihn verstanden habe. Ich sage nein und überquere die Straße direkt vor dem Taxi, stelle mich an eine "tienda" (Laden). Der Mann steigt ins Taxi ein und beide fahren weg. Ganz klarer Fall von Millionärstour.
Das ist nämlich Eric aus Bogotá mit seiner Freundin Lisa passiert. Eric sieht nicht unbedingt typisch deutsch aus, Lisa dafür mit blonden Haaren und blauen Augen umso mehr. Im Nachhinein klingt das Ganze wie unglaubliche Dummheit, aber man realisiert die Gefahrenlage meist nicht so, wie man sollte. Die beiden machen ihre Weihnachtseinkäufe für 200 Euro und haben - erster Fehler - beide ihre Kreditkarten dabei. Sie nehmen abends um zehn Uhr ein Taxi nach Hause - zweiter Fehler - von der Straße. Der Taxifahrer hat nur noch ein Ohr, das Taxi ist nicht registriert. Natürlich sollte man da aussteigen. Aber im Nachhinein ist man immer klüger. Das Taxi biegt also in eine dunkle Straße ein, zwei Männer mit Messern springen rein und Eric und Lisa kommen in den Genuss einer einstündigen Taxifahrt durch Bogotá, Ziel unbekannt. Am Ende sind sie um ihre Geschenke erleichtert und 500 Euro vom Kreditkartenkonto ärmer. Immerhin bekamen sie ihre Handys zurück. Zwischendurch durchaus lustige Situationen - ein Dieb packt gekaufte Seife aus, riecht daran und fragt: "Ist das Gold?" Anschließend halten Eric und Lisa ein Auto von der Straße an, das sie freundlicherweise zur Polizei bringt. Sie bekommen vom Autofahrer sogar noch 45.000 Pesos geschenkt. Kolumbien hat immer zwei Gesichter.
Beim Deutschunterricht muss ich mich konzentrieren. Wieso leitet "bei" den Dativ ein, "für" den Akkusativ und "in" und "an" beides? Hab ich noch nie drüber nachgedacht - geschweige denn, wie ich das erklären sollte. Warum heißt es "die Schule" und "die Schulen", "das Zimmer" und "die Zimmer", "der Arzt" und "die Ärzte"? Auswendig lernen, lautet die Devise. Mein Gott, bin ich froh, dass Deutsch meine Muttersprache ist.
Anschließend geh ich mit David, meinem neuen Kollegen in der Schule, zu einer Feier von der Koordinatorin des Lernbereichs Sprachen meiner Schule. Ihre Schwester lebt seit vielen Jahren in Deutschland und ist mit ihrem neuen Freund zu Besuch in Kolumbien. Viel Essen, viel (laute) Salsa-Musik mit der guten alten Ratschgurke. Hab ich auch mal gespielt, 10. Klasse Musik bei Frau Schulte. Es wird Whisky und Aguardiente getrunken und viel getanzt. Ich natürlich auch.
Abends um 19 Uhr bin ich endlich wieder zu Hause. Ich erzähle meinen Gasteltern vom Raubversuch und sie streiten sich, was ich hätte tun sollen. Zum Glück sind die Räuber, die ich bisher kennengelernt habe, nicht besonders intelligent und hatten weder Messer noch Waffen bei sich. In solch einem Fall ist wehren natürlich nicht angebracht, es sei denn, man will sein Leben lang im Optimalfall mit einer Narbe im Gesicht rumlaufen wie eine Deutsche, von der Eric gehört hat. Im schlimmsten Falle braucht man sich keine Sorgen mehr um irgendwelche Narben zu machen, denn unter der Erde sieht einen eh keiner. Auf jeden Fall warte ich ab jetzt woanders auf den Bus.


Ein typischer Bus. Dieser hier kürzt gerade über die Wiese ab, da an der Ampel zwei Autos zusammengestoßen waren.

Montag, 8. Februar 2010

Ich stehe um 6 Uhr auf, damit ich um 7.30 Uhr in der Schule sein kann. Der MIO-Expressbus E31 ist recht leer und ich bekomme nach 10 Minuten einen Sitzplatz. Ich mache noch schnell Kopien und weise dann die entsprechende Lehrerin darauf hin, dass ich jetzt den Unterricht für die Fortgeschrittenen machen würde. Das ist nämlich der Plan, den ich entwickelt habe, denn bei über 30 Schülern pro Klasse gibt es kaum Möglichkeiten, die guten Schüler herauszufordern. Also unterrichte ich jetzt laut meinem Stundenplan 22 Stunden pro Woche, bis zu 12 Schüler pro Stunde, während einer ihrer normalen Englischstunden. Außerdem gebe ich dem Rektor und seinen Assistenten eine Stunde Englischunterricht pro Woche, und drei Stunden wöchentlich sind für Englisch-Klubs vor und nach der Schule gedacht, um den richtig Guten die Möglichkeit zu geben, ihre Fähigkeiten beim Sprechen anzuwenden. Bei über 6000 Schülern gibt es da ein paar Geeignete.
Wie dem auch sei, die Lehrerin hat das natürlich voll verplant und meint, in 15 Minuten könne sie mir die entsprechenden Schüler schicken. Ich biete ihr 5 Minuten an, und wir einigen uns auf 10. Exakt 17 Minuten später kommen meine Schüler ins Lehrerzimmer, wo ich mangels anderer Räume Unterricht gebe. Noch hat sich kein Lehrer beschwert, und außerdem steht der Rektor hinter mir. Wir lesen Lektion 2B aus meinem alten Französischbuch, das ich auf Englisch übersetzt habe. "Arthur est un perroquet.", die älteren Semester mögen sich erinnern. Das Gleiche mache ich mit zwei weiteren 10. Klassen, dann sollte ich eigentlich Spanischunterricht mit der Deutschlehrerin haben, aber die ist gerade beschäftigt. Nach sechs Monaten Kolumbien fällt die Bilanz mit ganzen zwei Spanischstunden doch recht mager aus. Also warte ich ein bisschen und gehe dann Mittagessen. Für die Deutschen ist es gratis, der Rest der Welt zahlt für Saft, Suppe, Reis, Plátano, Gemüse und Fleisch 4000 Pesos, das sind ungefähr 1,50 Euro.
Die zwei Nachmittagsstunden fallen aus. An der Schule sind nämlich gerade Bauarbeiten, und so kommt jeden Tag nur die Hälfte der Schüler. Und die Elftklässler, die ich unterrichten sollte, sind halt an diesem Montag nicht da. Nachdem zwei Monate keine festen Stundenpläne existierten, sollte dieses System nur drei Wochen dauern, wurde aber mittlerweile auf fünf bis zum Ende nächster Woche verlängert. Ich bin realistisch und tippe auf eine weitere Verlängerung bis Ende Februar.
Ich gehe zur Bushaltestelle, wo sich schon locker mehr als 100 Leute tummeln. Die Gelenkbusse mit 48 Sitzen und offiziell 112 Stehplätzen fahren alle fünf Minuten, doch der vorige scheint nicht gekommen sein. Es gibt aber keinen Fahrplan, deshalb kann sich auch keiner beschweren. Ich stelle mich aktiv an und ergattere einen Sitzplatz. Wenn nicht, hätte ich halt fünf Minuten auf den nächsten Bus gewartet. Kolumbianer hingegen scheinen keine Probleme damit zu haben, im Bus zu stehen - auch nicht für eine halbe Stunde. Wenn ein Sitzplatz frei wird, warten sie meistens erst einmal eine halbe Minute und stellen ihre Tasche auf den Platz, um ihren Anspruch darauf zu zeigen. Oder es wird durch den ganzen Bus ein Mädchen oder eine Frau herbeigewinkt, da die hier einen naturgegebenen Sitzplatzanspruch haben. Ich bin da allerdings resistent und überlasse einen freien Sitzplatz nur neben mir stehenden Frauen - wenn zwischen ihr und mir fünf weitere Fahrgäste stehen, hat sie halt Pech.
Der Bus füllt sich rapide und sieht nach einer weiteren Haltestelle wie ein HSV-Bus von Stellingen zum Stadion - damals, als noch keine Sicherheitsleute den Zugang zum Bus regulierten. Mit dem einzigen Unterschied, dass der Bus nicht voll von grölenden Fußballfans, sondern von Geschäftsleuten ist, passen ab der dritten Station keine Fahrgäste mehr in den Bus. Die Tür schließt nur nach mehreren Versuchen. Wenigstens ist der Bus klimatisiert.
Nachmittags sollte ich eigentlich nochmal zu Diana, um ihr bei einem Brief für ihre Gastfamilie zu helfen. Sie ist bis sechs Uhr da, hat sie mir gesagt. Um vier Uhr rufe ich an und erfahre, dass sie in einer Stunde los muss. Gut, verschieben wir den Brief halt auf morgen.

 

Alt trifft neu - die Kirche "La Merced" (Die Gnade) vor dem Gebäude der Bank "Bancolombia" in Calis Innenstadt.

Dienstag, 9. Februar 2010

Obwohl heute mein freier Tag ist, stehe ich um sieben Uhr auf. Meine Freundin ist krank und will, dass ich mit ihr zum Arzt gehe. Um neun Uhr soll ich da sein. Um acht Uhr klingelt sie mich an. Das Anklingeln ist für mich etwas typisch Kolumbianisches. Etwa die Hälfte aller Leute hat anscheinend nie Geld auf dem Handy und erwartet dann, dass man zurückruft. Ich habe mir angewöhnt, den Vorteil daran zu sehen: Wenn ich nicht mit jemandem sprechen möchte, muss ich einfach gar nichts machen, noch nicht mal nicht rangehen. Meine Freundin rufe ich natürlich zurück und sie sagt mir, ihr geht es schon besser. Sie will nicht zum Doktor und ich solle besser heute Nachmittag kommen. Da wollte ich schon zu Diana. Wir einigen uns auf 18 Uhr.
Diesmal gehe ich einen anderen Weg zum Bus, der mich zu Diana bringt. Wir schreiben gemeinsam den Brief und ich nehme anschließend den Bus zu meiner Freundin. Es regnet zum ersten Mal seit langem, ich setze mich in die letzte Reihe und lese den SPIEGEL. Plötzlich kommt ein Junge in den Bus und trägt mehr schlecht als recht ein Rap-Lied vor. Ich verstehe den Text nicht so wirklich und mit der Stimme eines Achtjährigen klingt das Ganze auch nicht wirklich authentisch. Er bittet um 1500 Pesos, damit er sich die Busfahrt leisten kann. Dann setzt er sich neben mich und öffnet ein Fläschchen mit einer zähen gelben Flüssigkeit. Der Geruch nach Lösungsmittel steigt mir in die Nase. Er wird doch nicht... doch, er wird. Ich sehe zum ersten Mal in meinem Leben ein Kind, das Klebstoff schnüffelt, und empfinde unbändiges Mitleid.
Bei meiner Freundin ist wie immer viel Familienleben. Heute nerven mich ihre beiden Nichten und Neffen, denn ich würde einfach gerne mal in Ruhe mit ihr einen Film schauen, aber das ist in ihrer Familie schwierig. Schließlich lebt sie mit ihrer Mutter, ihrer Schwester, dem Freund ihrer Schwester und den zwei Kindern in einem Haus. Bei vielen Familien ist es sicher auch das mangelnde Geld, doch allgemein sind hier in Kolumbien die Familienbande viel enger. Vor der Hochzeit zieht man nicht aus und studiert und gelebt wird grundsätzlich in der gleichen Stadt, in der auch die Eltern wohnen. Und wenn man doch mal woanders lebt, gibt es bestimmt irgendwelche Onkel, Tanten, Schwippschwägerinnen oder sonst wen, bei dem man wohnen kann. Dieses enge Familienleben geht natürlich zu Lasten der Privatsphäre, und das stört mich in diesem Moment. Ich fahre mit dem MIO nach Hause und komme um 23 Uhr zu Hause an. Zum Glück muss ich morgen wegen der Bauarbeiten nur zwei Stunden unterrichten und eine Präsentation halten.

 

Auf einer Wiese im Norden der Stadt wird illegalerweise Müll verbrannt.

Mittwoch, 10. Februar 2010

Ich stehe um acht Uhr auf und nehme nach einem leckeren Frühstück - Müsli mit Milch, dazu ein Obstteller mit Ananas, Papaya und Mango - eine Stunde später den Bus zur Arbeit. Ich denke "Oh nein", als ich den Bus herannahen sehen, denn im Gegensatz zu sonst ist es ein normaler Bus und kein Gelenkbus. Doch, oh Wunder, er ist relativ leer, und irgendwer scheint es heute gut mit mir zu meinen. Schon eine Station später steht jemand auf und ich habe einen Sitzplatz. Ich kann mein Glück kaum fassen - und das ist keine Übertreibung. Wirklich nicht.
Mit dem Rektor mache ich den gleichen Unterricht wie mit meinen Schülern. Der Unterschied ist, dass er mir zuhört. Nach einer 9. Klasse gebe ich noch privat eine Stunde Deutschunterricht. Als ich dann um 13.30 Uhr in die Cafeteria komme, gibt es kein Mittagessen mehr - ich muss aber etwas essen. Ich tausche also die 4000 Pesos, die für das Mittagessen abgerechnet werden, gegen zwei Empanadas, eine Papaya und einen Maracujasaft ein. Nicht satt, aber auch nicht hungrig halte ich um 14.30 Uhr vor zwei 10. Klassen zwei Powerpoint-Präsentationen über "Flughäfen" und "Musik in Deutschland", natürlich in Englisch. Mit vielen Bildern, Audiobeispielen und Übersetzungen fasziniere ich die meisten meiner Zuhörer, und ich fahre gut gelaunt nach Hause.


Auf dem Nachhauseweg schieße ich mit meinem Handy dieses Foto. Der Mann trägt, etwas schwer zu erkennen, einen Hahn mit sich herum. Dann besteigt auch er den Bus. Was in Deutschland exotisch wäre, ist hier durchaus verständlich. Der Mann muss den Hahn ja irgendwie transportieren und wenn er kein Geld für ein Taxi hat, dann nimmt er halt den Bus.
Ich habe nichts zu tun, es ist heiß. Ich besuche das Fitnessstudio um die Ecke und trainiere eine Stunde. Mir fällt ein Zettel auf, den das Fitnessstudio an die Wand gehängt hat. Es ist eine Untersuchung der Wasserqualität im Kinderschwimmbecken, das im Fitnessstudio ist. Mit gelbem Marker angestrichen ist die Anzahl e.coli-Bakterien, mit der Bemerkung "Akzeptabel". Wer hat den Zettel an die Wand gehängt? Ist der Marker ein Zeichen von Stolz oder vom Gesundheitsministerium angeordnet?

Donnerstag, 11. Februar 2010

Buscando el paraíso

Auf der Suche nach dem Paradies

So, nach einer kurzen Schreibpause geht es mal wieder weiter. Es gibt hier momentan vieles, um das ich mich kümmern muss, da ich nun endlich in der Schule arbeite - dazu in Kürze mehr. Weiterhin wurde ich zum dritten Mal fast ausgeraubt - am Sonntag um 11 Uhr morgens. Aber auch dazu in Kürze mehr.
Heute soll es um etwas Schönes gehen, und zwar um meinen Aufenthalt an der Karibik vom 11. bis zum 18. Dezember mit Eric, Julian und Lilian. Ich flog am ...

Tag 1 - Freitag, 11. Dezember

... von Cali über Medellin nach Santa Marta, diesmal mit einer Propellermaschine von Avianca. Die Karte zeigt meine Reiseroute inklusive der Rückreise mit Aires über Bogotá - diesmal auch mit Koffer.


Am Flughafen in Santa Marta angekommen, wurde ich vom Hausangestellten Wilson und dem Nachbarn Orlando abgeholt und wir fuhren gemeinsam in die Stadt, um einzukaufen. Da Eric, Julian und Lilian erst später aus Bogotá kamen, kaufte ich nach bestem Wissen und Gewissen ein - unter anderem entdeckte ich deutsches Schwarzbrot und holländischen Goudakäse! Außerdem kaufte ich ein paar Kilo Nudeln - die gibt es nämlich in kolumbianischen Familien nicht so häufig zu essen - und besorgte ein Kilo Garnelen für 24.000 Pesos, umgerechnet etwa 8 Euro. In der Innenstadt von Santa Marta war es interessant, mit Orlando im Auto zu sitzen, denn er konnte nicht mehr so richtig gut sehen und so teilte ihm Wilson immer mit, wo er längs fahren müsse: "Stop, das ist eine Einbahnstraße." -"Na gut, dann fahren wir halt rückwärts wieder raus." Ein echtes Abenteuer.
Als Eric, Julian und Lilian dann endlich ankamen, war es schon dunkel und so konnten sie unsere "cabaña" (Hütte) nicht mehr bei Tageslicht sehen. Hütte ist allerdings leicht untertrieben für das folgende Anwesen, in dem wir eine Woche für 50 Euro pro Person wohnen durften. Die Anlage, auf der mehrere Häuser Platz fanden, hieß "El Mirador de las Gaviotas" (Möwenblick) und hat sogar einen eigenen Blog.


Tag 2 - Samstag, 12. Dezember

Wir hatten morgens einen schönen Blick über die wüstenähnliche Gegend, die sich vor unserem Haus erstreckte. Es lag, wie wir feststellen mussten, nicht im allerbesten Viertel und so waren wir recht glücklich, Wilson als Ortskundigen zu haben.


Und was macht man so in der Karibik? Richtig: baden! Also gingen wir voller Vorfreude zum Strand - und wurden bitterlich enttäuscht. Es tummelten sich dutzende Verkäufer am Strand und nervten uns mit Obst, Säften, Sonnenbrillen, Luftmatratzen, und was man sonst noch so alles nicht braucht, wenn man einfach nur mal seine Ruhe haben möchte. Der Strand war grau vom Kohleabbau in der Gegend und voll mit Müll. Nach fünf Minuten im Meer, in denen Wilson unsere Sachen bewachte, gingen wir vollends enttäuscht wieder nach Hause. Das sollte also die Karibik sein?

Tag 3 - Sonntag, 13. Dezember

Wie auch sonst auf seinem "Rübenacker" in Girardot konnte Julian, die gute Seele unserer Gruppe, wieder einfach nicht genug von der Arbeit bekommen und überraschte uns morgens alle mit frisch gepresster Limonade vom nächsten Limonenbaum. In der Nacht war Wilson bei uns geblieben und hatte in einer Hängematte übernachtet, was uns doch etwas störte, da wir endlich mal ohne unsere Familien ein bisschen Privatsphäre genießen wollten.
Heute wollten wir jedenfalls an einen schöneren Strand - bei 1.626 Kilometern Küstenlinie zur Karibik muss Kolumbien ja auch einen Strand haben, der nicht verdreckt und überlaufen ist. Wir fragten also Wilson und er empfahl uns die Mündung des Río Buritaca (Buritaca-Fluss), etwa eine Stunde von Santa Marta entfernt. Wir fuhren also mit ihm in die Stadt und er verfrachtete uns in den richtigen Bus, der umgerechnet 5 Euro für alle zusammen kostete.


Wir fuhren an riesigen Plantagen von "Plátanos" (Kochbananen) vorbei, bevor wir im Dorf ankamen, das dem Strand am nächsten war. Für 1000 Pesos pro Person, 35 Cent, ersparten wir uns den Weg zum Strand und wurden stattdessen von einem kleinen Jeep mitgenommen. Vorbei an einem kleinen Markt und Restaurants kamen wir zum Fluss, den wir an einer Furt durchquerten und so endlich zum Strand kamen.


Dieser Strand war deutlich ruhiger als der nahe unserer Hütte - es gab keine Verkäufer - doch vom Farbton her immer noch grau. Nix mit weißen Karibikstränden...


Trotzdem genossen wir die Zeit am Strand.


Eric fragt sich: Wo geht's lang?

 
Da!


Julian hatte für 5000 Pesos, also 1,70 Euro, den Rettungsschwimmern für zwei Stunden dieses alte Surfbrett abgeluchst und versuchte, ein paar Wellen damit zu stehen. Leider war es viel zu groß und zu schwer, und die Wellen waren auch eher ungeeignet.


Auch Eric, Lilian und ich versuchten es, scheiterten aber ebenso kläglich.


Ein toller Blick auf die Sierra Nevada ("Verschneite Bergkette"). Im nächsten Bild seht ihr den Río Buritaca von oben.


Nach einem entspannten Tag ging es abends wieder mit dem Jeep und dem Bus zurück. Eric hatte leider nur einen Stehplatz, da schon alle Plätze besetzt waren. Wir hatten alle einen Bärenhunger, als wir ankamen, und verschlangen zu viert ein Kilo Nudeln und das Kilo Garnelen! Außerdem konnte Julian unseren "Aufpasser" Wilson dazu überreden, doch in der nächsten Nacht bei seiner Familie zu schlafen. So hatten wir endlich unsere Ruhe.
Dies wiederum veranlasste Eric, unseren "Sicherheitschef", die vier hauseigenen Macheten in der Hütte griffbereit zu verstecken, falls ein "ladrón" (Einbrecher) versuchen sollte, uns zu überfallen. Ihr mögt jetzt vielleicht denken, ich übertreibe hier mit den Vorsichtsmaßnahmen, doch wie bereits gesagt wohnten wir vier weißen Westeuropäer nicht in der reichsten Gegend, und besonders Eric kann ich verstehen - er wurde nämlich in Bogotá in einem Taxi eine Stunde lang mit dem Messer am Hals bedroht. Aber dazu kommen wir nächste Woche.

Tag 4 - Montag, 14. Dezember

Fast war schon die Hälfte unseres Urlaubes vorüber und es war zwar sehr entspannend, doch ein richtiges Karibikgefühl war noch nicht aufgekommen. Wo waren die weißen Strände, die Kokospalmen, die Ruhe, die man aus der Werbung kennt?
Wir wollten noch nicht aufgeben und entschlossen uns, in den Parque Nacional Tayrona (Nationalpark Tayrona) zu fahren und dort eine Nacht zu bleiben. Wir kamen erst recht spät los und manchmal will es das Schicksal halt so, denn im Bus trafen wir einen Kanadier namens Brian, der fünf Minuten entfernt vom Parque Tayrona eine Surfschule aufgemacht hat. Auf Grund meiner eher schlechten Erfahrungen mit dem Surfbrett zwei Tage zuvor hatte ich keine rechte Lust, ließ mich dann aber von Eric und Julian überreden, da wir ja auch die 10 Euro Parkeintritt pro Person sparen würden.
Also fuhren wir mit Brian bis zur Surfschule, die auf einer Kokosnussplantage namens "Casa Grande" (Großes Haus) gelegen war. Wir konnten zwischen Hängematten und Hütte für die Nacht auswählen und entschieden uns selbstverständlich stilecht für die Hängematten. Die Hütte wäre auch finanziell nicht drin gewesen, denn irgendwie war ich plötzlich der Einzige, der Geld dabei hatte.


Hier in Casa Grande hatten wir endlich das Paradies gefunden! Ruhe, ein toller Strand, das Rauschen des Meeres und Schlafen unter Kokospalmen - was wollten wir mehr?

 

Doch vor dem Schlafen ging es erst einmal Surfen!


Das Meer war recht unruhig und trotz aller Bemühungen schaffte es an diesem Tag nur Julian, eine Welle zu stehen.


Baden wurde in Casa Grande nicht empfohlen, da die Strömungen besonders unter Wasser manchmal extrem stark waren, wie wir bei den Surfversuchen immer wieder feststellen mussten. Zum Glück war das Surfbrett über eine Leine mit unserem Fuß verbunden.

 
Auf der Flucht vor den Fluten.

  
Abends gab es nach einem leckeren Fisch mit Reis dann Rum, Cola, Kokosmilch und Zitronen.

Tag 5 - Dienstag, 15. Dezember


Zwischen diesen Palmen waren unsere Hängematten gespannt. Wir wachten von der lärmenden Brandung auf und mussten feststellen, dass die Wellen über Nacht noch stärker geworden waren. Aber das hielt uns natürlich nicht vom Surfen ab.


Nach vielen ernüchternden Versuchen hatte ich mir meinen Bauch vom Wachs auf dem Surfbrett wund gescheuert - noch heute sieht man Spuren - doch beim letzten Mal gelang es mir endlich, eine Welle zu stehen. Es hatte zwar keiner gesehen, aber ich beschloss, auf dem Höhepunkt aufzuhören und wartete mit Lilian am Strand auf Julian und Eric, die noch am Surfen waren. Leider schwamm beim Abspülen des Surfbretts im Río Mendihuaca (Mendihuaca-Fluss), den ihr im folgenden Luftbild sehen könnt, mein HSV-Handtuch davon und treibt jetzt wohl irgendwo zwischen Santa Marta und Stockholm im Atlantik herum.



Am linken Bildrand liegt Casa Grande, wo wir noch eine Nacht blieben, nachdem wir mit Brian ausgemacht hatten, ihm das Geld in Santa Marta zu geben, da er eh dorthin musste. Ich hatte zwar eine Kreditkarte dabei, die aber ohne Automat recht wenig weiterhilft. Abends aßen und tranken wir das Gleiche wie am Tag zuvor - und das störte uns kein bisschen.

Tag 6 - Mittwoch, 16. Dezember

Morgens ging ich mit Julian auf Entdeckungsreise, bevor wir aufbrechen mussten.

 

Wir entdeckten unter anderem die Windows XP-Palme, die standardmäßig auf dem Desktop zu sehen ist.


Nach einem letzten sehnsüchtigen Blick auf den Karibikstrand ...


... fuhren wir glücklich und entspannt nach Hause. Wir hatten schließlich gefunden, was wir gesucht hatten: das Paradies! Abends gab es wieder Spaghetti mit Garnelen und wir entschlossen uns dazu, den für morgen geplanten Ausflug in das immerhin drei Stunden entfernte Cartagena abzublasen. Dahin sollte es dann auf der zweiten Karibiktour im Januar gehen, die auch bald hier dokumentiert wird.

Tag 7 - Donnerstag, 17. Dezember

Unseren letzten ganzen Tag in der Karibik wollten wir ganz entspannt verbringen. Leider kamen Wilson und Orlando immer wieder vorbei - sie wollten nichts Besonderes, das ist hier in Kolumbien halt so. Im Vergleich zu Kakteen und Wüste waren wir vier weißen Westeuropäer schon interessant. Euch wird die Betonung der Hautfarbe, jetzt schon zum zweiten Mal, sicherlich seltsam vorkommen, aber man sticht hier echt hervor damit. Aber dazu gibt's nächste Woche mehr.


Wir fuhren noch in die Innenstadt Santa Martas, um uns Hängematten zu kaufen. Die sind hier nämlich spottbillig, von guter Qualität und ein tolles Andenken an die Reise und an Kolumbien!


Es ging am Denkmal von Simón Bolívar vorbei. Er erklärte im 19. Jahrhundert die Unabhängigkeit Kolumbiens und Venezuelas und ist momentan das Einzige, was die beiden Länder gemeinsam ehren und feiern. An genau diesem 17. Dezember war er vor 179 Jahren in Santa Marta gestorben, sodass wir auf einem Besuch seines Museum verzichteten, das sicherlich voll war. Stattdessen gingen wir auf den Markt, um Geschenke für unsere Freunde, Freundinnen und Gastfamilien zu kaufen.

 

Wer findet den Fehler?


Vorbei am Hafen und an der Strandpromenade ging es abends wieder nach Hause, wo es - wer hätte es gedacht - wieder mal Spaghetti mit Garnelen gab. Dann packten wir unsere Sachen und am ...

Tag 8 - Freitag, 18. Dezember

... ging es mittags wieder zurück nach Bogotá und Cali. Doch die Trauer über die Rückreise war bei mir und Eric nur kurz, schließlich sollte es im Januar noch einmal an die Karibik gehen. In ein paar Wochen gibt es das dann auch schriftlich und bildlich in diesem Blog. Schließlich soll es zuerst mal um die Sicherheitslage und meine Arbeit gehen - und dann kamen ja auch noch Weihnachten, die "Feria", Silvester und Medellin ...

Bis dahin alles Gute,

Lars